Über die Lernfähigkeit von Organisationen, von Pit Rohwedder
Wie Menschen als Individuen lernen ist durch Pädagogik, Psychologie und Neurowissenschaften mittlerweile gut belegt. Doch wie lernen eigentlich Organisationen und wie kann deren Lernfähigkeit verbessert werden?
Organisationen haben über die Zeitdauer ihrer Existenz automatisch gelernt, mit ihrer relevanten Außenwelt (Kunde, Märkte, Lieferanten usw.) zu interagieren und ihr Innenleben
(Selbstverständnis, sozialer Umgang, Kooperationsniveau usw.) zu gestalten. Es sind also die typischerweise genutzten Möglichkeiten, Impulse für Veränderungen aufzugreifen oder auch abzulehnen und machen einen wesentlichen Teil der Organisationskultur aus. Stützend vor allem auf die erfolgreichen Erfahrungen und Problemlösestrategien der Vergangenheit werden dabei idealtypischer weise nützliche von weniger nützlichen Erfahrungen aussortiert. Sogenannte „Best Practice“ Erkenntnisse destillieren dann Idealrezepte heraus und sollen die Erfolgsstory auch für die Zukunft sichern. Der Begriff des „kontinuierlichen Verbesserungsprozess“ (KVP) ist inzwischen weithin bekannt geworden und legt teilweise eindrucksvoll Zeugnis ab, wie Lernvorgänge in Organisationen systematisch und erfolgreich gesteuert werden können.
Dieses von der Wirtschaft bevorzugte Lernverständnis beschreiben die renommierten Autoren und Wissenschaftler Argyris und Schön in ihrem Klassiker „Die lernende Organisation“ als Lernen Erster Ordnung oder Einschleifen Lernen („single loop“). 1 Auf der Basis von Grundannahmen und Überzeugungen, werden also operative Maßnahmen in der Organisation angeordnet. Zur Überprüfung dieser Maßnahmen lautet die zentrale Fragestellung: „Tun wir die angeordneten Dinge richtig?“
Das Einschleifen – Lernen bezieht sich also rein auf die Reflektion der Umsetzung von Maßnahmen, Prozessen und Projekten. Werden Irrtümer entdeckt, finden automatisch Korrekturen statt, bis der erwünschte Erfolg eintritt. Wir haben es also mit einem reinen Anpassungslernen an ein Paradigma zu tun. Das kann gut oder schlecht sein, je nach dem, welche Annahmen und Werte zur Bestimmung der Verbesserung herangezogen werden. Doch diese Annahmen und Werte bleiben beim Einschleifen Lernen unverändert. Weil man also innerhalb seines eigenen Denkmodells bleibt, findet zwar Veränderung im Sinne einer Anpassung an Bestehendes, aber kein wirklicher Wandel statt. Es darf nun bezweifelt werden, dass dieser letztlich systemimmanente Lernvorgang innovationshemmende „blinde Flecken“ in der Organisation erkennen lässt und hinsichtlich einer ungewissen Zukunft notwendige Selbsterneuerungskräfte fördern kann. Nicht jeder blinde Fleck in der Organisation entscheidet natürlich über seine Zukunftsfähigkeit. Da jedoch zahlreiche Wirtschaftswissenschaftler aktuell vom größten Umbruch in der bisherigen Wirtschaftsgeschichte ausgehen, sind durchaus Zweifel angebracht, ob es sinnvoll ist, die aus der Vergangenheit heraufwehenden Erfolgsrezepte, Denkmodelle und Werthaltungen auch für die Zukunft fahnenschwingend vor sich herzutragen. Sind sie als evolutionäres Potenzial eines Unternehmens automatisch auch noch für die Zukunft gültig und wirklich weiterhin erfolgversprechend?
Agyris und Schön stellen diesem traditionellem Lernverständnis ein interessantes Doppelschleifen Lernen oder Lernen Zweiter Ordnung gegenüber. Es folgt der Fragestellung: Tun wir (überhaupt noch) die richtigen Dinge?
Der „Double Loop“ ist also das Hinterfragen der Grundannahmen, Denkmodelle und Werthaltungen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse können zu nachhaltig veränderten Sichtweisen von Annahmen und Strategien führen. Dieses Veränderungslernen stellt gegenüber dem reinen Anpassungslernen dann die Grundlage eines neuen Zusammenspiels in der Organisation mit seiner Umwelt und damit einem echten Wandel dar. Ein gutes Beispiel für Lernen Zweiter Ordnung ist die Entwicklung des Hochsprungs in der Leichtathletik. Hochsprungathleten haben jahrzehntelang die tapfersten Anstrengungen unternommen, um möglichst hoch über die Latte zu springen, sind aber letztlich immer derselben Annahme und Handlungsweise gefolgt, nämlich frontal zu springen. Erst Dick Fosbury hat durch den Fosbury Flop den Hochsprung komplett revolutioniert und durch die typische Rückwärtsbewegung die Leistungsfähigkeit im Hochsprung erheblich gesteigert. Doch gehen wir wieder zurück in die Wirtschaft. Apple hat bis vor wenigen Jahren noch nie Handys gebaut, dann völlig neue Wege eingeschlagen und die Welt revolutioniert. Welch eine böse Überraschung für Nokia, welche im bis dahin stabilen Markt ihre Konkurrenz nach Belieben beherrschte. Doch leider hatten sie nicht erfolgreich gelernt, die zukünftigen Kundenwünsche vorherzusehen bzw. Trends zu setzen. Zahlreiche neue Start Up Unternehmen stellen mittlerweile tradiertes unternehmerisches Denken und Handeln radikal in Frage. Sie widersetzen sich erfolgreich einer lange gültigen Branchenlogik.
Eine „Lernende Organisation“ macht sich also selbst und ihr eigenes Lernverständnis zum Gegenstand der Beobachtung, Reflektion und zur Neuorientierung ihres Handelns.
Wenn Organisationen sich also für die Zukunft lediglich auf historisch gewachsenes und bewährtes aus der Vergangenheit stützen, verlassen sie demnach nie den eigenen „Tellerrand“ Es gilt psychologisch als gesichert, dass Erfolgsverwöhnung kritische Selbstreflexion bremst. Der bekannte Kommunikationswissenschaftler Paul Watzalwick hat das einmal passend formuliert:
„Wenn Du immer nur das tust, was Du immer schon getan hast, wirst Du immer nur das bekommen, was Du immer schon bekommen hast.“ 3
Übersetzt in das Anliegen dieses Kapitels, Lernfähigkeit in Organisationen zu verbessern, bedeutet dies
„Wenn wir über die Qualität unserer Produkte und internen Prozesse, über die (zukünftigen) Bedürfnisse unserer Kunden, über unseren Umgang mit Mitarbeitern und Geschäftspartnern, sowie über Marktveränderungen und Wettbewerber, immer nur das denken und glauben, was wir immer schon gedacht und geglaubt haben, laufen wir im Fortschreiten der aktuellen Veränderungsdynamik Gefahr, den Kunden, Mitarbeiter, Geschäftspartner und den Markt zu verlieren.“
Halten Sie einmal kurz inne:
- Wie werden Lernprozesse in Ihrer Organisation initiiert?
- Sind diese eher ereignisorientiert und reaktiv oder auch systematisch und iterativ?
- Wie experimentierfreudig oder wie sicherheitsorientiert erleben Sie das?
- Wie werden Innenperspektiven, also die Erfahrung verschiedener Schlüsselspieler und MitarbeiterInnen und wie werden Impulse von Außen durch Kunden, Lieferanten, Wettbewerber dabei integriert?
In der dargestellten Grafik können Sie diese Impulsfragen über eine Skalierung von innen nach außen reflektieren. Innen entspricht dem Wert 0 und außen dem Wert 10, also hervorragend
Die Lernfähigkeit von Organisationen zu reflektieren und zu stimulieren ist kein „nice to have“, oder reiner Selbstzweck – sie sichert angesichts der turbulenten Veränderungsdynamiken unserer Zeit letztlich die Zukunftsfähigkeit von Organisationen!
In der Zukunft wird also das Überleben von Organisationen von der Kompetenz abhängig sein, ein neues Verständnis über sich Selbst, die Mitarbeiter, den Markt und die Kunden zu erlangen. Daraus können dann neue Strategien, Lernwege und Verhaltensweisen entwickelt werden. Stimulieren Sie also durch Innovationsteams, Innovationstage sowie crossfunktionale Zusammenarbeit Lernvorgänge in der Organisation. Diese Investition wird „frischen Wind“ bringen und sich immer lohnen.
1 Argyris , Chris; Schön, Donald A.: „Die lernende Organisation“, Clett Cotta Verlag, Stuttgart 2006. S. 35-40
2 Chan, Kim W., Mauborgne, Renee: „Der blaue Ozean als Strategie“, Carl Hanser Verlag, München 2016
3 Watzlawick, Paul: https://www.google.com/search?biw=1920&bih=943&tbm=isch&sa=1&ei=jNw2XpeGM82Yaf6UipgN&q=Paul+watzlawick+wenn+du+immer+nur+das+tust+was+du+schon+immer+getan+hast&oq=Paul+watzlawick+wenn+du+immer+nur+das+tust+was+du+schon+immer+getan+hast&gs_l=img.12…10002.11140..16635…1.0..0.76.409.6……0….1..gws-wiz-img.klBhyKFS22s&ved=0ahUKEwiX_M_2ibPnAhVNTBoKHX6KAtMQ4dUDCAY