Jenseits der Effizienz – das Fenster der Vitalität

Wie wir von der Natur lernen können und mit systemischer Führung nachhaltigen Erfolg in der VUCA-Welt erreichen.

„Die Forschung zeigt, dass ein zu hoher Grad an Effizienz eines Systems gleichzeitig seine Instabilität steigert und seine Vitalität (Lebensfähigkeit) verringert.“ Bernhard Lietaer

Organisationen (als vom Menschen geschaffene Systeme) können mit komplexen Ökosystemen verglichen werden und sind wie diese in komplexe und dynamische (sogenannte dynaxe) Umwelten eingebettet. In den letzten Jahren haben dynamische Komplexitäten, mit denen Organisationen und Führungskräfte konfrontiert sind, drastisch zugenommen. In nahezu allen Lebensbereichen zeigen sich eine hohe Vernetzung von Wirkfaktoren und eine Beschleunigung von Abläufen.

In diesem dynaxen Umfeld entsteht eine sogenannte „wicked zone“, in welcher durch wachsende Komplexität einerseits die notwendige Anpas-sungszeit´ steigt und sich andererseits die ´zur Verfügung stehende Zeit´ durch wachsende Dynamik reduziert.

Hierbei geht es um strategische Unternehmensentscheidungen, die Früh-warnung für die gesamte Organisation, die Umweltproblematik, die Aktivitäten in den Märkten und den Wertewandel in der Gesellschaft.

Simple Ursache-Wirkungs-Beziehungen gibt es dabei nur in der Theorie, nicht in der Wirklichkeit. Dort regieren wie in natürlichen Systemen indirekte Wirkungen, Beziehungsnetze und Zeitverzögerungen.

Der Umgang mit diesen Themen verlangt neue Führungsmethoden, die eine nachhaltige Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit (und damit Vitalität) einer Organisation gewährleisten.

Es geht darum, die vorliegende Komplexität und Dynamik nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie zu nutzen lernen, um nachhaltig – also evolutionär sinnvoll – handeln zu können.

Die systemische Führung bietet wichtige Grundlagen und Hilfsmittel für die Bewältigung dieser aktuellen und zukünftigen Herausforderungen.

Mehr vom „Alten“ und Fokussierung auf Effizienz

Technokratisch geschult versuchen Führungskräfte mit einer linearen und kausalen Logik immer neue Wege zur Beherrschung komplexer Systeme zu finden. „Mehr desselben“ lautet das Reaktionsmuster – mehr Spezialisierung, mehr Regeln, mehr Kontrolle, mehr Bürokratie.

Gerade die Wirtschaftswelt stellt sich am liebsten eine perfekte triviale Maschine vor, an der es Stellräder und –hebel gibt, mit denen man die gewünschten Ergebnisse erreicht.

Doch in der Realität haben die von Organisationen getätigten Schritte keine direkt vorhersagbaren Auswirkungen, sondern sind abhängig von vielerlei unterschiedlichen Einflussfaktoren. Gängige Methoden und Partialkonzepte (wie zum Beispiel Business Process Reengineering oder Kostenmanage-ment) zeigen in der Praxis, dass sie nicht geeignet sind, angemessen mit Komplexität, Dynamik und Vielfalt umzugehen.

Dazu kommt noch eine weitere Erkenntnis aus der Untersuchung von biologischen Systemen: alle komplexen Systeme werden strukturell instabil, sobald die Effizienz überbetont wird auf Kosten von Vielfalt und Vernetzung sowie der entscheidenden Widerstandsfähigkeit (Belastbarkeit, Flexibilität, Vitalität), die diese bieten. Die Natur strebt nicht das Maximum an Effizienz an, sondern eine optimale Balance zwischen den beiden Polen Effizienz und Belastbarkeit. Dabei zeigt sich, dass die Belastbarkeit im Optimum sogar doppelt so hoch ist wie die Effizienz (nach Bernhard Litaer).

Viele Wirtschaftsexperten drängen auf endloses Größenwachstum und Steigerung der Effizienz, weil sie davon ausgehen, dass diese Parameter ein ausreichendes Maß für die Vitalität sind. Auch Bereiche wie Technik und Handel haben sich fast ausschließlich auf Effizienz konzentriert.

Tatsächlich handelt es sich dabei um einen suboptimalen Maßstab für nachhaltige Lebensfähigkeit, weil die Netzwerkstruktur und die systemischen Eigenschaften ignoriert werden. Damit kann beispielsweise nicht zwischen einer widerstandsfähigen Wirtschaft, einer gesunden Entwicklung und einer Blase, die irgendwann platzen wird, unterschieden werden.

Es ist interessant festzustellen, dass alle Ökosysteme ihre ausschlag-gebenden Parameter innerhalb eines speziellen Rahmens haben, der empirisch berechnet und als „Funktionstüchtigkeitsfenster“ oder „Vitalitätsfenster“ bezeichnet werden kann.

Denn hoch effiziente Systeme sind immer auch sehr anfällig. Als Beispiel aus der Natur kann hierzu eine Fichtenmonokultur genannt werden. Man kann sie sehr leicht anlegen und rationell ernten. Doch ein einziger Schädlingstyp kann sich sehr schnell ausbreiten und den ganzen Wald vernichten.

Diese Erkenntnisse lassen sich auch auf andere Systeme, wie zum Beispiel Organisationen oder Wirtschaftsgemeinschaften, übertragen, da sie sich ebenfalls aus der „Struktur komplexer Systeme“ ergeben.

Mit Vernetztem Denken von der Natur lernen

„Von der Natur können wir lernen, was für eine nachhaltige Entwicklung wichtig ist.“ 

Bernhard Lietaer

Das systemrelevante Hauptziel ist immer die Erhöhung und Sicherung der Lebensfähigkeit (Vitalität) eines Systems, welche durch eine Balance zwischen Effizienz und Belastbarkeit erreicht wird. Dabei spielen zwei strukturverwandte Hauptvariablen eine wesentliche Rolle: Vielfalt und Vernetzungsgrad.
Es gilt, Zusammenhänge und Abhängigkeiten des Gesamtsystems zu verstehen und bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen, um eine langfristige und folgenbewusste Handlungsstrategie zu entwickeln. Damit können Veränderungen mit stärkster Hebelwirkung initiiert werden.
Dabei ist zu akzeptieren, dass ein Unternehmen oder eine Organisation, welche als natürliche Systeme betrachtet werden, nicht mit der Regelmäßigkeit einer Maschine funktionieren. Das geläufige Denken in linearen und kausalen Ursache-Wirkungsketten ist durch eine ganzheitliche und vernetzte Sichtweise und ein Denken in Kreisläufen zu ersetzen.
Basis dafür sind Konzepte, welche die gegenwärtigen Paradigmen und vorherrschenden Denkmodelle erweitern, die komplexen Eigenschaften von Organisationen, wie zum Beispiel Nichtlinearität, Selbstlernen und Selbstorganisation akzentuieren und den beteiligten Menschen helfen, mit Komplexität und Dynamik umzugehen.

Mit Erweiterung der Paradigmen zur systemischen Führung

Vor der Frage; was können wir tun? muss der Frage nachgegangen werden: wie müssen wir denken?“

Joseph Beuys

Um eine Bewegung in Richtung „Vitalitätsfenster“ anzustoßen, geht es darum, Führung als Ganzes zu betrachten und nicht nur als die Summe der Einzelteile. Dies erfordert in erster Linie andere Denkweisen: weg von Einstellungen, die trennen und hin zu Einstellungen, die verbinden und das Ganze als in Beziehung stehender Teile erkennen:

Objekte Beziehungen
Dinge Prozesse
harte Faktoren weiche Faktoren
Gesetze Muster
entweder oder sowohl als auch
linear zirkulär
systematisch systemisch
kurzfristig nachhaltig
Teile Vernetzungen

Führung hat hierbei weniger mit Optimieren als mit Balancieren zu tun, zwar auch mit Analyse, vor allem aber mit Integration und Synthese sehr verschiedenartiger Faktoren. Führung ist leichter zu verstehen als das Bemühen, ein komplexes System erfolgreich zu bewältigen.
Gestaltung, Lenkung und Entwicklung von komplexen Systemen ist somit die Perspektive einer systemorientierten Führung.

Als Grundlage existieren zwei unterschiedliche Arten von Managementansätzen:

Als Grundlage existieren zwei unterschiedliche Arten von Management-ansätzen:

  • Der konstruktivistisch-mechanische Ansatz betrachtet die Organisation als Maschine im klassischen mechanischen Sinn mit dem Basisparadigma der vollständigen Kontrollierbarkeit im Detail. Im Fokus stehen Gewinnmaximierung, ökonomische Aspekte, eine einseitige Sichtweise und Shareholder-Interessen.
  • Der systemisch-evolutionäreAnsatz betrachtet die Organisation als natürliches System. Dabei stehen folgende Themen im Fokus: Gewinnerzielung mit Nebenbedingungen, Berücksichtigung aller Aspekte, ganzheitliche und vernetzte Sichtweise und die Interessen aller Beteiligten und Betroffenen.

In jüngster Zeit wächst die Einsicht, dass wirksame Lösungen in Führungskonzepten auf eine Synthese beider Arten von Methodiken basieren.

 

„Systemisches Denken ist Systemtheoretisches Erklären.“

Fritz Simon

Beteiligung und Einbindung aller Menschen mit System

Da eine Organisation ein soziotechnisches System darstellt, in welchem sich einzelne Menschen und Teams wie ein lebender Organismus verhalten, ist die Mitwirkung aller Betroffenen sinnvoll und relevant.

Die Gestaltung und Entwicklung des Systems sollte von allen beteiligten Akteuren selbst vorgenommen werden. Denn ein hoher systemischer (kybernetischer) Reifegrad (Vitalität) einer Organisation kann nur mit einem hohen systemischen (kybernetischen) Reifegrad der agierenden Menschen (vielfältige Möglichkeiten zum Umgang mit komplexen Systemen) erreicht werden.

Die methodische Grundlage im Rahmen eines systemischen Managements fokussiert angesichts der Komplexität der Phänomene in Organisationen nicht mehr auf die mathematische Analyse und Lösung von Gleichungen, sondern auf die systemische Gestaltung, Führung und Entwicklung.

Die konkrete Ausprägung im Rahmen dieser Vorgehensweisen zeigen beispielhaft folgende exemplarische Methoden:

Für das Verstehen des Systems ist es wichtig, dass alle Wechselwirkungen zwischen den vernetzten Elementen / Variablen eines Systems ganzheitlich betrachtet werden. Eine unterstützende Methode ist hier die sogenannteEinflussmatrix(auch Cross-Impact-Matrix genannt), welche die Stärke der Wirkungen der einzelnen Größen auf alle anderen Größen beschreibt:

Diese Einflussmatrix lässt erkennen, welche Elemente im System eine aktive, eine reaktive, eine kritische oder eine träge Rolle spielen. So können beispielsweise Hebel identifiziert werden.

Zum Verständnis der Wirkungszusammenhänge und der Zeitverläufe wird die Gesamtvernetzung dargestellt und untersucht:

Eine „Simulation“ untersucht, wie das System oder Teilsysteme auf die Entfernung oder die Einfügung von Variablen reagieren und wie sich Zustandsänderungen von Variablen auswirken. Ebenso können die Folgen sich im Laufe der Zeit ändernder Beziehungen zwischen Variablen registriert werden.

Durch Vergleiche verschiedener Simulationsläufe kann geprüft werden, welche Folgewirkungen die Veränderung eines „Steuerhebels“ oder einer „kritischen Komponente“ auf das gesamte Netz eines Teilgefüges hat. Es zeigt sich auch, ob der gewünschte Effekt vielleicht kompensiert wird, sich selbst verstärkt oder am Ende ins Gegenteil umkippt und wo entsprechende Grenz- und Schwellwerte liegen.

Im Rahmen einer systemischen Betrachtung werden neben quantitativen vor allem auch qualitative Aspekte berücksichtigt. Deshalb kann kein Simulationsprogramm mit exakten Daten in ein mathematisches Beziehungs-system gebracht werden. Für die praktische Anwendung der vorgestellten Methoden existieren vielfältige Software-Programme als Unterstützung.

Systemische Führung – Chance für die Zukunft

In vielen Bereichen findet die systemische Führung bereits Anwendung in der betrieblichen Praxis. Dabei zeigen sich vor allem bei einem Vorgehen im Sinne der integrativen Systemmethodik mit der Nutzung methodischer Synergien viele Vorteile:

  • Betroffene werden beteiligt und können ihre Erfahrungen und Sichtweisen einbringen
  • Gemeinsam wird ein solider, faktenbasierender „common ground“ geschaffen
  • Ein wirkungsvolles Frühwarnsystem entsteht
  • Ein hilfreiches Modell zur Entscheidungsunterstützung wird kreiert
  • Quantitative und qualitative Aspekte werden berücksichtigt
  • Strukturierte und diskursive Vorgehensweisen können kombiniert werden
  • Möglichkeiten für Experimente und Innovationen entstehen.

In vielen praktischen Projekten hat die Verwendung der Methoden der systemischen Führung zu einem tieferen Verständnis der Komplexität und Dynamik für die Beteiligten geführt. Es hat die mentalen Modelle der Menschen verändert und damit organisationales Lernen angestoßen und gefördert.

Somit liefert systemische Führung einen mentalen und methodischen Rahmen, der den Menschen hilft, mit komplexen Situationen effektiver umgehen zu können.

Und dabei werden Prozesse zur Erhöhung der Vitalität / Lebensfähigkeit der Organisation unterstützt.

Ein wenig zum „Schmökern“ 

Wenn Sie weitere Impulse zu diesem Thema möchten, dann finden Sie zum Beispiel Anregungen in folgenden Büchern:

  • Stephanie Borgert: Unkompliziert
  • Stefan Kaduk et al: Musterbrecher
  • Amel Karboul: Coffin Corner
  • Fredmund Malik: Navigieren in Zeiten des Umbruchs
  • Niels Pfläging: Organisation für Komplexität
  • Wolfgang Vieweg: Management in Komplexität und Unsicherheit
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