Die Polarity-Canvas – der konstruktive Umgang mit Widersprüchen
„Das Merkmal ausgezeichneter Intelligenz ist die Fähigkeit, gleichzeitig zwei widersprüchliche Ideen im Kopf zu haben und trotzdem funktionsfähig zu bleiben.“
F. Scott Fitzgerald
Vor einigen Tagen erschien im Netz ein interessanter Artikel zu der Frage: „Wer ist wichtiger – Mitarbeitende oder Kunden?“
Bereits die Überschrift irritierte mich. Ist diese Frage wirklich richtig gestellt? Sind nicht beide Parteien für das Wohlergehen eines Unternehmens gleichermaßen wichtig?
Der Autor beantwortet seine Frage gleich im ersten Abschnitt:
„Die Frage ist natürlich leicht zu beantworten: Die Mitarbeiter*innen sind wichtiger, denn ohne ihre Arbeit, ihre Leistung und ihr Zutun hätten Unternehmen nichts zu verkaufen, keine Produkte und keine Dienstleistungen. Ohne sie gäbe es schlicht keine Kunden. Andererseits kaufen Kunden Produkte und Dienstleistungen, sie stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Unternehmen und zahlen Rechnungen und somit auch die Gehälter der Mitarbeiter*innen.
Ohne Kunden braucht es keine Mitarbeiter*innen, somit sind sie natürlich wichtiger. Möglicherweise liegt die Wahrheit auch in der Mitte: Mitarbeitende und Kunden sind gleich wichtig, sie bedingen einander, können ohne die jeweilige andere Seite nicht existieren und sind daher zwei Seiten einer Medaille.“
Was halten Sie von dieser Antwort: Mitarbeiter UND Kunden sind gleich wichtig, denn sie bedingen sich gegenseitig. Keine Seite kann ohne die andere existieren.
Nun gut – das klingt nach einer salomonischen Lösung – wirklich zufrieden ist man damit nicht.
Denn: Jede Organisation unterliegt Begrenzungen – Ressourcen, wie Zeit, Energie oder Kapital sind nicht unendlich verfügbar. Innerhalb dieses Rahmens müssen Entscheidungen getroffen werden. Setzen wir unsere verfügbaren Ressourcen eher für DAS EINE oder eher für DAS ANDERE ein?
Solche Zwickmühlen oder Dilemmata scheinen in unserem persönlichen und Unternehmens-Welt an der Tagesordnung zu sein:
- Soll ich die Erwartungen anderer erfüllen ODER meine Bedürfnisse?
- Sollen wir unsere Produkte eher standardisieren ODER eher ganz individuell auf den jeweiligen Kunden abstimmen?
- Soll ich an mir arbeiten ODER soll ich mich eher so annehmen wie ich bin?
- Sollen wir uns lieber auf den Ausbau von Serviceleistungen konzentrieren ODER auf Kosteneinsparnisse?
- Soll ich die Entscheidung lieber rational ODER eher intuitiv treffen?
„Das Merkmal ausgezeichneter Intelligenz ist die Fähigkeit, gleichzeitig zwei widersprüchliche Ideen im Kopf zu haben und trotzdem funktionsfähig zu bleiben.“
F. Scott Fitzgerald
Bei solchen Fragen kann die „Polarity-Canvas“ nützlich sein, die ich Ihnen im Folgenden vorstellen möchte.
Vielleicht kennen Sie dieses Bild?
Je nachdem wie man es betrachtet, sieht man (abwechselnd) eine junge Frau oder eine alte Frau. Wir wissen, dass beide im Bild existieren und können dennoch nicht beide gleichzeitig sehen. Wir müssen hin und her schalten. Unsere Wahrnehmung ist darauf angelegt, EIN Muster zu identifizieren, es zu isolieren und andere Muster auszublenden. Selbst dann, wenn das eine Muster ohne das andere nicht möglich ist.
Ähnliche Herausforderungen Problemen begegnen uns jeden Tag in unseren Organisationen:
Stellen Sie sich vor, Sie haben die Leitung für ein großes Projekt übernommen. Da Sie ein kompetentes Projektteam an Bord haben, definieren Sie zwar Projektziele und -meilensteine, lassen aber jedem im Team viel Freiraum, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.
Schon nach wenigen Tagen macht sich Unruhe im Team breit. Entscheidungen scheinen nicht aufeinander abgestimmt zu sein, die ersten Fehler passieren, Schuldzuweisungen häufen sich. Alle wünschen sich klarere Ansagen seitens der Projektleitung.
Sie nehmen sich ein Herz und kommunizieren deutlicher und klarer, was sie von wem wie erwarten.
Doch schon nach einigen Wochen häufen sich Beschwerden seitens des Teams: Sie als Projektleiter würden zu viel vorgeben und Entscheidungsfreiheiten unnötig einschränken.
Also entschließen Sie sich, wieder mehr Entscheidungsverantwortung ins Team zu geben.
Und dieses Muster kann sich unendlich wiederholen. Das Team bewegt sich von einem Pol zum anderen. Einerseits schätzt es die Autonomie, Entscheidungen selbst treffen zu können. Im nächsten Moment legt es Wert auf klare eindeutige Vorgaben seitens der Projektleitung.
Das Team bewegt sich ständig weg von dem, was es für ein Problem hält und hin zum Wunsch nach einer entgültigen Lösung des Problems. Wenn die erhoffte Lösung dann doch nicht funktioniert, beginnt das Spiel von Neuem: Das Team ändert sein Urteil („Autonomie ist doch keine Lösung – Autonomie ist das Problem“) und beginnt sich auf die neue Lösung zu zubewegen (die früher das Problem war.)
Es gibt Probleme, die kann man nicht lösen – nur managen.
In der VUCA-Welt finden solche Dynamiken täglich und in jeder Organisation statt. Wir pendeln von Planung zur Aktion zur Planung, von Kundenorientierung zur Mitarbeiterorientierung und wieder zurück zum Fokus auf den Kunden, von Zentralisierung zu Dezentralisierung und zurück zur Dezentralisierung, von der Standardisierung von Kunden-Prozessen zur individuellen Betreuung und wieder zurück.
Und auch vor unserem persönlichen Leben machen diese Phänomene keinen Halt: Wir stürzen uns nach einem inspirierenden Buch oder Seminar in ein persönliches Change-Projekt, stellen uns und unser Verhalten in Frage, um nach mehr oder weniger kurzer Zeit all diese Veränderung eher als Problem zu sehen und die Lösung darin zu suchen, sich anzunehmen, wie man nun mal ist.
Gefangen in der Suche nach der „richtigen“ Lösung bekommen wir meist nie das, was wir uns letztendlich erhoffen: Eine klare eindeutige und einfache Lösung: „Genauso ist es richtig.“
In Wahrheit ist diese Art von Problemen (dauerhaft) unlösbar. Weder Autonomie noch klare Top-Down-Ansagen sind besser als das jeweils andere. Es braucht beides. Beides ist unerlässlich. Beides muss von Moment neu ausbalanciert werden.
Dieser Balance-Akt könnte man das „das Management von Polaritäten“ nennen.
Die Balance notwendiger Widersprüche und Gegensätze
Die grundlegende Botschaft im Polaritätenmanagement lautet: „Es gibt keine „richtige“ Antwort. Es gibt keine einfache Lösung.
Sie können in dem Vexierbild oben die junge Frau sehen, aber das bedeutet nicht, dass diese Perspektive irgendwie „richtiger“ oder legitimer ist, als die alte Frau zu sehen.
Vielleicht erleben Sie in Ihrem Unternehmen gerade einige fundamentale Veränderungen für die es jede Menge plausible Gründe gibt. Aber ist dadurch das Bedürfnis einer Ihrer Kollegen nach mehr Stabilität weniger richtig?
Eine große Herausforderung unserer VUCA-Welt ist es, zwei offensichtlich widersprüchliche Wahrheiten (Polaritäten) als gleichermaßen richtig anzunehmen.
Was sind Polaritäten?
Polaritäten beschreiben Gegensätze. Zwei Pole auf einem Kontinuum, die sich einerseits widersprechen, andererseits jedoch gegenseitig brauchen. Genauso wie im obigen Bild der alten/jungen Frau ist das Eine im Anderen bereits angelegt. Fokussiert man sich nur auf das Eine, „arbeitet“ der Gegenpart im Verborgenen und aktiviert Kräfte, die zu Spannungen führen – oft sichtbar in Form von Blockaden oder Konflikten.
So ist in nahezu jedem Change-Projekt eine starke Dynamik zwischen beharrenden und Veränderungs-motivierten (Führungs-) kräften zu beobachten.
Die Ersteren fühlen sich unverstanden, oft als „Hüter des Guten“, beginnen sich miteinander zu vernetzen und gehen in den Widerstand, da sie ihre bisherige Leistung abgewertet sahen. Dagegen möchten die „Veränderungs-Motivierten“ nach vorne schauen, sehen die Chancen in der Veränderung und fühlen sich vom Widerstand der Anderen blockiert und genervt.
Zwei gegensätzliche Pole, die gerade nicht verstehen, dass das Gesamtsystem Organisation sowohl den Einen als auch den Anderen braucht.
Unter Polaritäten verstehen wir die Interpendenz zwischen zwei Polen eines Kontinuums, in dem die beide Enden des Kontinuums Gegensätze repräsentieren. Beide Pole sind notwendig, um den langfristigen Erfolg eines Systems (Mensch, Organisation) sicher zu stellen.
Einige Beispiele:
- Struktur UND Flexibilität
- Wandel UND Beständigkeit
- Unterstützen UND Fordern
- Kerngeschäft ausbauen UND risikofreudiges Vorstoßen in neue Märkte
- Mitarbeiter konsequent Führen UND großzügig Freiräume gewähren
Um Organisationen gut aufgestellt mit klugen Entscheidungen in die Zukunft zu führen, müssen wir uns von dem Mythos der Eindeutigkeit verabschieden und lernen Widersprüche und Ambivalenzen zu managen.
In unserem naturwissenschaftlich geprägten Denkrahmen sind wir der Meinung, dass es nur ein „Entweder-oder“ geben könnte, dass sich ein Ende des Kontinuums letztendlich gegen das Andere durchsetzen muss, dass es „nur ein wirklich Richtiges“ geben kann.
(Worauf dieser „Entweder-oder“ Denkrahmen basiert – möchte ich in einem weiteren Artikel näher betrachten.)
Die Polarity-Canvas in der Praxis
Wenn Sie einmal akzeptiert haben, dass es auf derartige Probleme keine einfache Lösung gibt und dass die beste Antwort in der Spannung und in der Unsicherheit liegt, dann ist das mehr als die Hälfte der Miete. Für die praktische Umsetzung können folgende Schritte nützlich sein:
- Identifizieren Sie die beiden Pole, zwischen denen Sie sich bewegen.
- Ist es mir/uns möglich, die Polaritäten, zwischen denen ich mich/wir uns momentan bewegen – auszuhalten und zu akzeptieren?
- Kann ich in beiden Polen positive Seite erkennen? Jene positiven Effekte, die jeder Pol in sich trägt?
- Machen Sie sich die größere Bedeutung bewusst, die eine gelungene Integration beider Pole für Sie und/oder Ihre Organisation mit sich bringen würde. Fragen Sie sich auch: Was wären die Konsequenzen, wenn diese Integration auf Dauer nicht gelänge?
- Erstellen Sie für jeden Pol eine Liste mit Vorteilen.
- Kann ich in beiden Polen positive Seite erkennen? Welche positiven Effekte/Vorteile trägt jeder der beiden Pole in sich?
- Erstellen Sie für jeden der beiden Pole eine Liste mit Ideen und Maßnahmen.
- Wie kann ich/können wir die positiven Effekte beider Pole noch besser nutzen? Was sind hierfür konkrete Ideen uns Maßnahmen?
- Erstellen Sie für jeden Pol eine Liste mit Nachteilen.
- Wenn ich mich/wir uns zu stark auf einen Pol fokussieren – welche negativen Effekte (Nachteile, Risiken) können auftreten?
- Identifizieren Sie eine Reihe von „Frühwarnindikatoren“, die anzeigen, wann der Vorteil eines Pols in einen Nachteil kippen lässt.
- Woran kann ich/können wir erkennen, dass ich mich/wir uns in den negativen Bereich der Nachteile und Risiken bewege/n?
- Was sind hierfür „Frühwarnindikatoren“?
Quellen:
- Paul Hellwig (1967): Charakterologie
- Friedemann Schulz von Thun (1991): Miteinander Reden Teil 2
- Wikipedia: Nikomachische Ethik
- Herbert Pietschman (2002): Eris & Eirene
- Barry Johnson (2014): Polarity Management
- Manfred Heise: Grafik im Beitragsbild
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