„Shu – Ha – Ri“ Die drei Stufen des Lernens für Mitarbeiter, Führung, Team- und Organisationsentwicklungsprozesse

Dr. Jürgen Freisl und Pit Rohwedder

Alle Organisationen stehen regelmässig vor der Frage, wie Entwicklungs- und Veränderungsprozesse effektiv gestaltet und nachhaltig umgesetzt werden können. Im Idealfall existieren systematische „Lernwege“, die den angestrebten Lern- und Veränderungszielen einen klaren Rahmen geben. Nach unseren Erfahrungen als Management Trainer und Organisationsberater sieht die Praxis jedoch häufig anders aus: oftmals werden neue Mitarbeiter/innen und neue Führungskräfte eher ins kalte Wasser geworfen. Systematische Vorbereitungen oder Qualifizierungen finden nur sporadisch oder auch zu spät statt. Veränderungen werden initiiert, doch nicht systematisch ausgerichtet und begleitet.

Um unsere Erfahrungen dazu nicht nur zu bündeln, sondern auch weiterzuentwickeln, haben wir über den Tellerrand geschaut. Dabei sind wir auf eine Philosophie der japanischen Kampfkunst gestoßen, die eine sehr anschauliche Entwicklungsdidaktik bietet. Vom Anfänger bis zum Meister erlebt der „Schüler“ seinen Entwicklungsprozess in den „Drei Stufen des Lernens“.


Was ist Shu Ha Ri genau und was bedeutet das?

Shu Ha Ri wird unter anderem in der asiatischen Kampfkunst verwendet und das Konzept soll auf den Japaner Kawakami Fuhaku (1719 – 1807) zurückgehen. Shu Ha Ri bezeichnet drei Entwicklungsetappen auf einem Weg, die gleichermaßen für die geübte Wegkunst, wie auch für den Reifeprozess im Leben gelten. Beide gehen Hand in Hand. Daher bezeichnet Shu Ha Ri in den Wegkünsten denselben Prozess, den ein Mensch im Leben erfährt: Jugend, Reife und Alter. In den betrieblichen Kontext übertragen bedeutet das den Weg

Vom Schüler – zum Gesellen – und zur Meisterschaft  oder auch
Vom Kenner – zum Könner – und Meister systematisch zu gehen.

Shu’, die erste Stufe des Lernens, bedeutet „erhalten, befolgen“. Man lernt, indem man nachahmt und den gegebenen Regeln folgt. Nur, wer die Regeln beherrscht, so die Idee, sei in der Lage, sich später über diese hinweg zu setzen, ohne die Kunst an sich zu verlieren. Das klassische Beispiel: ein kleiner Junge kommt in das Kloster der Mönche und will die hohe Kampfkunst erlernen. Seine Großmeister zeigen ihm die Bewegungsabläufe, korrigieren falsche Körperhaltungen und lassen den Jungen die Bewegungen wiederholen. In dieser Phase gehorcht der Junge als Lernender seinen Großmeistern.

‚Ha’ als zweite Stufe von Shu Ha Ri lässt sich übersetzen mit „durchbrechen, frei werden“. Hier geht es darum, die gegebenen Regeln und Standards zu variieren und auf die eigene Situation anzupassen. Dazu gehört auch, die Hintergründe zu verstehen, um so über das reine Befolgen von Regeln hinaus zu kommen. Bei unserem Beispiel vom Jungen im Kloster ist dieser zu einem jungen Erwachsenen herangewachsen. Er kennt die Ausführung der Kampftechniken, weiß nach welchen Regeln diese ablaufen. Nun beginnt er die Hintergründe der Techniken zu hinterfragen. Hier beginnt der Geselle die dahinterliegenden Prinzipien zu den Techniken bewusst mit einzubauen und entwickelt so seinen eigenen Stil. Dabei macht er kleinere Anpassungen, aber behält die Prinzipien bei. Der junge Erwachsene nimmt an ersten Übungswettkämpfen teil und feiert seine Technik.

‚Ri’ als dritte und höchste Stufe schließlich bedeutet „verlassen, abschneiden“ und meint, die gegebenen Muster hinter sich zu lassen um, von eigenen Impulsen gesteuert, eigene Wege zu gehen. Die Erfahrung und das Beherrschen der Regeln ist dabei die Voraussetzung, um sich in dieser fortgeschrittensten Variante unabhängig zu machen von der Lehre und deren Ideen frei anzuwenden. In unserem Beispiel des Klosters hat der Geselle den selben Wissensstand wie sein Großmeister. Somit wird er selber zum Großmeister, dies gelingt ihm auf Basis von seinen bisherigen Lehren und Erfahrungen. Im gegenseitigen Einverständnis würde, im Falle unserer Geschichte, nun der Junge als Erwachsener und mit dem Einverständnis seines Großmeisters das Kloster verlassen. Da er nun selber Grossmeister ist, kann er durch eigene kreative Impulse seine Techniken weiterentwickeln und verändern.

Das Konzept fand im Business Kontext anfangs der 200er Jahre durch Alistair Cockburnin seine erste Anwendung in der agilen Softwareentwicklung.

Shu Ha Ri in der betrieblichen Praxis

Für das Thema Lernen und Entwicklung bedeutet diese Philosophie zunächst: „Folge den Regeln, wie sie im Buche stehen! Nimm Deine relevanten Führungs- und Managementthemen genau, lerne dein System zu verstehen und handele danach Schritt für Schritt.“ Als Einwand dagegen kommt häufig aus der Praxis, dass man doch wohl sofort zum nächsten Schritt übergehen und es so machen könne, wie es individuell am besten passt. Dies ist möglich und sicher auch manchmal erfolgreich. Dennoch legt die Philosophie von Shu Ha Ri eine wichtige Frage nahe: Werde ich jemals in der Lage sein, die Methode, die Kunst wirklich so souverän zu beherrschen, dass ich sie frei verändern und weiter entwickeln kann, wenn ich nicht zu Beginn die Regeln und deren Auswirkungen am eigenen Leibe kennen gelernt habe?
Die eigene Weiterentwicklung ist begrenzt, denn diese erfordert eine Beherrschung der Methode. Und zur Beherrschung einer Methode gehören auch die Grundlage und zum Können wiederum gehört mehr als das theoretische Wissen.

Lernen in Stufen

Wer Methoden und Tools für sein System und seine Weiterentwicklung wirklich beherrschen lernen will, ist also gut beraten, wenn er die Regeln zunächst ernst nimmt. Erst, wenn Mitarbeiter/innen, Führungskräfte,Teams oder eine Organisation eigene Erfahrungen gesammelt haben, ist es Zeit für die zweite Stufe des Lernens, die Modifizierung. Nur daraus, aus der eigenen Erfahrung von Varianten und Abwandlungen und dem damit einhergehenden Verständnis von Sinn, Zweck und Hintergründen jeder einzelnen Regel, kann sich dann die dritte Stufe der Meisterschaft entwickeln.
Die Frage: „Regeln befolgen oder an die Situation anpassen?“ hat unterschiedliche, in jedem Falle allerdings eindeutige Antworten, je nachdem in welcher Phase man sich befindet. Beides hat seinen Sinn, eines nach dem anderen. Damit nicht der zweite Schritt vor dem ersten kommt und damit oft auch der letzte bleibt.

Das Konzept Shu Ha Ri kann als Tool angewendet werden, um festzustellen in welchem Stadium sich ein System, eine Organisation, ein Team, ein Einzelner oder ein Thema sich befindet und das weitere Vorgehen bewusst wählen.
Hier übersetzen wir übliche betriebliche Entwicklungsthemen in die Shu Ha Ri Didaktik:

 

 

Quellen / Literatur – ein wenig zum „Schmökern“ ?

Wenn Sie weitere Impulse zu diesem Thema möchten, dann finden Sie zum Beispiel Anregungen und Informationen auf folgenden Internet-Seiten:

 

 

 

Kata Coaching – Wie Sie mit 4 Schritten Potenziale entfalten und kontinuierliche Weiterentwicklung schaffen

In den letzten Jahren haben viele Organisationen agile Methoden und Tools ein-
geführt und erzielten damit auch schnelle Erfolge. Doch oft waren diese nur von kurzer Dauer, da Mitarbeiter und Führungskräfte zwar die Methoden anwendeten, jedoch ihre Handlungs- und Denkmuster nicht änderten. Ihnen fehlten die Denk- und Handelsroutinen, die im Kata-Coaching vermittelt werden. Denn ohne Kata funktioniert kein agiles Tool dauerhaft.

Weiterlesen

Neugier statt Blaupause – Warum Pläne in komplexen Umgebungen versagen

Hier erfahren Sie,

  • warum die klassische Planung in komplexen Umgebungen an ihre Grenzen stösst.
  • welche Alternativen es dazu gibt.
  • wie Sie mit diesen Alternativen erste Erfahrungen sammeln können.

Weiterlesen